Ich habe mich beruflich wie privat viel mit den Themen „change“ und „gesellschaftlicher Wandel“ auseinandergesetzt. Bei mir selbst, bei meinem gesellschaftlichen Engagement, in meiner Arbeit und ganz global gesehen aus allgemeinem Interesse. Anfang des Jahres habe ich durch Corona ausgelöst noch einmal reflekiert, wie Wandel eigentlich entsteht und mir verschiedenste Gesellschaftsentwürfe angeschaut, Podcasts gehört, Werke von Transformationsforscher/-innen gelesen und über das Thema viel nachgedacht.
Eins meiner Lieblingsbeispiele für schnellen Wandel ist das Rauchverbot in der Gastronomie. Vor Einführung des Verbots wurde erbittert gestritten. Die Deutschen schienen in zwei Lager gespalten. Nach Einführung legte sich diese Debatte sehr schnell und heute murrt kaum noch jemand, wenn er zum Rauchen vor die Tür muss oder ins Raucherzimmer. Es wurde eine neue Verhaltensweise erzwungen und das hat erstaunlich gut funktioniert. Beim Tempolimit kochen die Gemüter noch höher. Aber meine Prognose ist: Der Mensch gewöhnt sich sehr schnell an neue Zustände. So geschehen in der Corona-Krise:
Zu Beginn der Pandemie waren die Menschen so ängstlich, dass man das Gefühl hatte im öffentlichen Raum kann man sich auch über Blicke mit Corona infizieren. Einige Wochen später haben alle nur noch von der „neuen Normalität“ gesprochen und wieder ein paar Wochen später waren die ersten Meldungen in der Tagesschau nicht mehr Corona-bezogen sondern es gab wieder andere Themen im Fokus. Aus der Angstforschung weiß man, dass der Mensch einen solchen Extremzustand ca. 4 Wochen aufrecht halten kann und dann eine Gewöhnung einsetzt, eine Form von Abstumpfen. Und dieses Wissen könnten wir uns für bestimmte Veränderungen zunutze machen. Wenn man weiß, dass eine Veränderung nur für 4 Wochen wirkliche Anpassung erfordert und danach „in Fleisch und Blut“ übergeht, dann kann man viel entspannter über bestimmte Dinge diskutieren.
Doch erst einmal zurück zu meiner Recherche. Ich habe mir verschiedene Change-Modelle angeschaut und hier möchte ich eine kleine Auswahl der spannendsten Gedanken, die teilweise gar nicht neu aber dafür sehr gut begründet sind, vorstellen:
Häufigkeitsverdichtung
Maja Göpel ist eine sehr interessante Transformationsforscherin, die zur Zeit Generalsekretärin des Wissenschaftlichen Beirats Globale Umweltveränderungen der Bundesregierung tätig ist. Also keine kleine Stimme im Transfromationsdiskurs. Bei ihr habe ich vom Prinzip der „Häufigkeitsverdichtung“ gehört, welches einfach aussagt, dass Veränderung entsteht, wenn auf vielen Ebenen gleichzeitig Veränderungsbereitschaft erzeugt wird. Hierfür braucht es also die Visionär/-innen und die Vormacher/-innen auf allen Ebenen unserer Gesellschaft. Das Denken muss für andere Formen des Zusammenlebens geöffnet werden. Wenn ich sehe „Ah okay, die machen das anders und es funktioniert.“, dann kann ich mir selbst auch vorstellen, dass es für mich funktionieren kann. Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist, dass man sich einigermaßen mit den Vorreitern identifizieren kann. Daher ist meine Philosophie auch sehr stark von Mainstream-Ästhetik und -Sprache geprägt. Ich bin fest davon überzeugt, dass es nichts bringt hohe Reden zu schwingen ohne an der Lebensrealität der Menschen anzuknüpfen. „Nehmen Sie den Bus!“ ist keine schlaue Forderung, wenn auf dem Land der Bus nur alle zwei Stunden fährt. Genau solche platitüdenhaft geäußerten Forderungen sind das Problem der Nachhaltigkeitsdebatte.
Ebenso verhält es sich im Unternehmen: Die Führungskräfte können sich teilweise nicht in den Alltag der Beschäftigten einfühlen. Es mangelt an Austausch und echter Kommunikation. So verhärten sich Fronten und Veränderung wird aus Prinzip ausgebremst. Die Lösung ist hier Partizipation und Kommunikation auf Augenhöhe. Ganz offen muss darüber gesprochen werden „Was braucht das Unternehmen?“ und „Was brauchen wir als Beschäftigte?“. Ergebnisoffen und nach vorne gerichtet. Was ich in der Praxis aber oft sehe, sind Fake-Partizipationsprozesse, deren Ergebnis von vorneherein feststeht oder deren Leitplanken am Anfang nicht klar kommuniziert werden. Es wird oft „das weiße Blatt Papier“ versprochen und am Ende wird klar, dass es doch nur um die Randnotizen ging. Das ist frustrierend und Beschäftigte machen einen solchen Prozess genau einmal mit.
Drei Impuls-Ebenen
Maja Göpel nutzt eine Gliederung von drei Ebenen für Impulse:
- Innovation: „Das muss doch gehen!“
- Opposition: „Das darf nicht sein!“ (z.B. Fridays for Future)
- Von den Pionieren lernen: „Ich mach das jetzt genau so nach!“
Ich finde diese Dreiteilung sehr interessant, weil man hier schön verschiedene Ansätze für gesellschaftlichen Wandel einsortieren kann. Ebenso ist es im Unternehmen: Es gibt Vorreiter, die Dinge ausprobieren, es gibt die Menschen, die aufbegehren, aber noch keine neue Lösung haben und es gibt die „Nachahmer“, die der ersten Gruppe immer mit etwas Verzögerung folgen. Dieses Wissen können wir uns in Change-Prozessen zu Nutze machen und jede Gruppe individuell ansprechen und abholen.
Wie wird Zukunft geformt?
Zukunft formt sich nicht als lineare Fortschreibung der Vergangenheit. Die Zukunft wird von denen geformt, die am lautesten und stärksten über ihre Visionen sprechen.
Wenn wir Zukunft aus der Vergangenheit vorhersagen könnten, dann gäbe es niemals die aktuelle stark beschleunigte Welt. Die Innovationskurve ist seit der Erfindung des Internets explodiert. Das Internet ist ein gutes Beispiel. Man konnte es nicht auf der Vergangenheit vorhersehen, sondern es brauchte Visionäre, die sich vorstellen konnten wie ein weltumspannendes Netz aussehen könnte. Menschen, die vorausdenken, prägen unsere Zukunft. Und im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden die Visionen Wirklichkeit, die am meisten diskutiert werden. Aktuell das beste Beispiel: Die Digitalisierung. Es ist kein Naturgesetz, dass wir uns immer mehr in den digitalen Bereich verlagern. Seit Jahrzehnten wird die Digitalisierung „herbeigeredet“. Und je mehr darüber geredet wird, desto mehr haben wir das Gefühl etwas zu verpassen, wenn wir nicht jetzt aufspringen. So erfüllt sich die Prophezeiung von selbst.
Als Lektion können wir hier mitnehmen, dass unser gesprochenes Wort einen großen Einfluss auf die Zukunft haben kann und besonders darauf, wie die Menschen um uns herum Zukunft wahrnehmen. Dieses Prinzip können wir auch im Unternehmen anwenden. Eine Veränderung sollte nicht plötzlich aufploppen, sondern langsam eingeführt, besprochen, mit Visionen besetzt und mit Bildern transportiert werden, bevor es zu größeren Umwälzungen kommt. Oft entsteht Veränderung in der Führungsetage über Jahre hinweg auf eine sehr stille Art und Weise, um niemanden in Panik zu versetzen. Andersherum wäre es jedoch genau richtig. So früh wie möglich über Zukünfte und Möglichkeiten kommunizieren, nimmt Ängste und schafft es, ein gemeinsames Vorangehen zu ermöglichen.
Kritische Masse für einen Wandel
Wie viele Menschen einer Gruppe müssen etwas tun, damit der Rest es als „normal“ – bzw. „als Norm“ – empfindet?
Eine Antwort haben Forscher der Universität in Pennsylvania gefunden. Sobald 25 % einer Gruppe eine neue Konvention promoten, können sie mit hoher Wahrscheinlichkeit den Rest der Gruppe mitziehen. Im Video erklärt einer der Forscher diesen Effekt.
Was können wir aus dieser Studie mitnehmen? Fokussiere dich nicht auf die Bremser, sondern such die Veränderer, die Vormacher, die Frontrunner und zieh sie auf deine Seite. So ist ein Wandel einfacher umsetzbar, als alle 100% gleichförmig in eine Richtung zu bewegen. Es wird immer Nachzügler geben, das ist normal und auch gut so. Du solltest dich nur nicht zu lange mit ihnen aufhalten. Sie passen ihr Verhalten so oder so der neuen Norm an.
Fokus auf ein gutes, sinnreiches Leben mit erfüllenden Aufgaben
Maja Göpel arbeitet außerdem in ihrem Buch „The Great Mindshift“ (Open Access) heraus, dass der Mensch nach einem guten Leben strebt – nicht nach „mehr“. Hartmut Rosa nennt es die „Resonanzbeziehung“ und meint wohl das gleiche. Wir brauchen alternative positive Visionen für eine nachhaltige Zukunft. Momentan schreiben wir das „höher – schneller – weiter“ unserer Zeit einfach in die Zukunft. Es braucht aber neue Gesellschaftsmodelle, die wieder mehr Raum lassen für Zwischenmenschliches, echten Austausch und eben Resonanz. Und Nachhaltigkeit liefert genau hier einen Kompass, eine Orientierung. Die Lösung lässt sich jedoch nicht aus Indikatoren und Messwerte zaubern, sondern sie muss von Visionär/-innen erdacht und umgesetzt werden. Zum Glück geschieht genau das schon überall. Es gibt nachhaltige Banken, nachhaltige Unternehmen, und viele zivilgesellschaftliche Initiativen, die Menschen wieder mehr zusammenbringen wollen. Denn am Ende geht es wirklich um die großen Fragen: „Was wollen wir tun? Was ist der Sinn unseres Lebens? Wie füllen wir unsere Zeit?“. Unternehmen, die auf diese Fragen Antworten geben können, haben in Zukunft die Nase vorn.
Mein Fazit
Für mich habe ich aus diesem Rechercheprozess folgende Kernaussagen mitgenommen:
- Sowohl Innovation, Opposition und Nachahmung haben ihre Berechtigung.
- Viele verschiedene Ansätze auf allen gesellschaftlichen Ebenen führen zu einer Häufigkeitsverdichtung. So entsteht eine gesellschaftliche Veränderung von größerem Ausmaß.
- Wer über die Zukunft spricht, formt sie auch. Wir brauchen hierfür attraktive Visionen für ein gutes Leben und gute Unternehmen.
- Diese positiven Visionen müssen von ca. 25 % der Menschen angenommen werden und dann entsteht sehr wahrscheinlich ein Kipp-Punkt im sozialen System.
– Ende –
Ich hoffe, dir hat der Artikel gefallen! Wenn du es so weit geschafft hast, hast du hoffentlich ein paar Impulse mitgenommen. Wie immer gilt: Ich freue mich über positives sowie kritisches Feedback zu meinen Beiträgen. Schreib mir gerne direkt jetzt eine Mail an nils [at] nachhaltigkeit-verstehen.de
Quellen & Erläuterungen:
https://science.sciencemag.org/content/360/6393/1116