Mit Kanonen auf Spatzen schießen: Klimabilanz von Videostreaming

In meinem letzten Blog-Beitrag hatte ich etwas zum Vergleich von Elektroautos und Verbrennern geschrieben. Etwas ähnliches ist mir die letzten Tage über den Weg bei tagesschau und Golem gelaufen: Die Klimabilanz von Online-Streaming. Und wieder gab es spannende Ergebnisse vom Umweltbundesamt.

Bisher war Streaming als Klimakiller verschrieen. Die Plattform Utopia titelte z.B. „Netflix, Youtube, Spotify: So klimaschädlich ist Streaming wirklich“ und wirft direkt mit Handlungsempfehlungen um sich:

„Du suchtest gerne mal Netflix? Damit bist du nicht allein – trotzdem solltest du dabei auch mal an die Umwelt denken. Denn auch digitale Streaming-Dienste wie Netflix verursachen CO2 – und zwar viel.“

Außerdem fallen so schöne Sätze wie „2019 veröffentlichten Forscher des französischen Thinktanks „Shift Project“ eine Studie mit erschreckenden Zahlen. Der zufolge, habe Video-Streaming allein 2018 mehr als 300 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente verursacht. Das entspreche der Menge, die das gesamte Land Spanien in einem Jahr ausstößt.

Absolute Vergleiche nutzen uns hier relativ wenig und Spanien hat im internationalen Vergleich einen ziemlich geringen CO2-Fußabdruck (in Spanien muss z.B. deutlich weniger geheizt werden…). Spanien emittiert ca. 330 Mio Tonnen CO2, wohingegen Deutschland bei ca. 860 Mio Tonnen liegt – bei 47 zu 83 Millionen Einwohnern [Quelle].

Der Utopia-Artikel geht auch auf Fehler im Studiendesign ein und zeigt einige Probleme der Studienmethodik klar auf. Am Ende werden aber Schreckgespenster vom klimaschädlichen Videostreaming an die Wand gemalt. Das stört mich und deswegen möchte ich das Thema hier mal etwas genauer aufdröseln.

Unsere Datenbasis

Schauen wir doch mal gemeinsam in die neue Studie des BMU:

Wie im folgenden Bild zu sehen, gibt es erstmal einige Unterschiede von Rechenzentrum zu Rechenzentrum. Das ist wenig überraschend, da man ja mehr oder weniger energieeffiziente Hardware verwenden und diese besser oder schlechter auslasten kann. Die Unterschiede sind schonmal interessant.

Wenn wir uns jetzt in folgendem Bild noch einmal anschauen, wie sich die Emissionen von einzelnen Rechenzentren für eine Stunde Video-Streaming in HD-Qualität zusammensetzen, fällt auf, dass die Speicher (die ja vom BMU extra in einer eigenen Grafik verglichen wurden), nur einen sehr kleinen Anteil ausmachen. Ich verstehe zu wenig von der Thematik und habe mir nur die Zusammenfassung der Studie angeschaut, aber das kommt mir komisch vor. Aber wie gesagt, das ist nur ein Bauchgefühl, weswegen ich an dieser Stelle bei Interesse empfehlen würde, genauer in die Original-Studie zu schauen.

Es lässt sich aber festhalten: Wir haben insgesamt 1,45 Gramm CO2-Äquivalente pro Stunde Videostreaming in HD-Qualität durch das Rechenzentrum. Aber ich schaue den Film am Ende ja gar nicht im Rechenzentrum, sondern bei mir Zuhause. Welchen Einfluss haben meine Entscheidungen denn dort?

Wie immer zu wenig berücksichtigt: Die Endnutzer-Perspektive

Die Frage, die sich niemand in den Studien stellt, ist die des Endgeräts. [Das ist auch okay, aber die Studien werden dann leider falsch interpretiert.] Wie wird der Inhalt am Ende konsumiert? Über einen Laptop-Bildschirm oder über ein Heimkino-System? Diese Entscheidung wird ausgeklammert, macht jedoch aus meiner Sicht den größten Teil der CO2-Emissionen aus. Ein Smartphone braucht im Betrieb meist unter 5 Watt. Ein sparsamer Laptop braucht ca. 20 Watt. Ein kleiner sparsamer Fernseher (ca. 32 Zoll) braucht ohne Sound-Anlage schon 30 Watt. Ein sparsamer 55 Zoll Fernseher braucht schon 55 Watt und dabei gehen wir immer von A++ Geräten in der Eco-Einstellung aus (auch bekannt als „Warum ist das Bild so dunkel?“). Ein vollausgestattetes Heimkino kann schnell 200 Watt an Dauerleistung brauchen, womit wir um den Faktor 10 höher liegen als der Laptop. Bei einem Strommix mit ca. 401 g CO2 pro kWh [Quelle] liegen wir also bei folgenden Werten:

Smartphone: 2 Gramm CO2 pro Stunde
Laptop: 8 Gramm CO2 pro Stunde
32 Zoll Fernseher: 12 Gramm CO2 pro Stunde
Komplettes Heimkino: 80 Gramm CO2 pro Stunde

Die Werte liegen also teilweise deutlich über den 2 Gramm CO2 pro Stunde, die dann öffentlich diskutiert wurden. Damit wurden also bei einem Himkino mal eben 97,5 % der Emissionen unterschlagen, wenn man schreibt, dass Videostreaming gar nicht so klimaschädlich ist wie gedacht. heise.de ist da eine angenehme Ausnahme (siehe Artikel in den Quellen).

Einschub: Die Studie hat auch gezeigt, dass Streaming über UMTS, den weniger energieeffizienten Mobilfunkstandard, schon bis zu 90 Gramm CO2 pro Stunde Streaming ausmachen kann. Im WLAN sind es hingegen nur 2-4 Gramm. UMTS zum Streamen ist also wirklich auch eine schlechte Idee.

Wir müssen gesellschaftlich leider immer die gesamte Nutzungsdauer eines Produkts, in diesem Fall ein Videostream, betrachten. Es nutzt nichts, wenn wir am Ende die Botschaft stehen haben „Streaming ist gar nicht klimaschädlich“ und alle guten Gewissens ihr Heimkino ausbauen.

Genauso verhält es sich oft im Lebensmittelbereich. Die größte CO2-Sünde begeht der Verbraucher, wenn er oder sie mit dem Auto zum Supermarkt fährt. Schon 5 Kilometer mit einem Mittelklassewagen verursachen ca. 1 kg CO2-Emissionen. Die Zubereitung der Lebensmittel („Nudeln mit oder ohne Deckel kochen“) tut dann ihr übriges, so dass am Ende die Erzeugung der Lebensmittel wirklich nicht mehr ins Gewicht fällt. Wir müssen aufhören, uns auf die einzelnen Details zu versteifen, sondern das große Ganze betrachten und die größten CO2-Emissionsquellen angehen [Quelle]:

  1. Energieerzeugung durch Kohle & Gas (mit großem Abstand!)
  2. Industrie (z.B. Glas- und Stahlindustrie)
  3. Verkehr (mit dem Individualverkehr als größten Unterpunkt)
  4. Gebäude (Heizungen)

Ein neuer Forschungsweg: Wie verbringe ich meine Zeit?

In letzter Zeit beobachte ich immer mehr wie kleine Nebenschauplätze aufgemacht werden und im Prinzip alles als extrem klimaschädlich tituliert wird. So kommen wir aber nicht weiter! Wir brauchen ein paar Zahlen, an denen wir uns entlanghangeln können – in Diskussionen mit Freunden, Bekannten oder in der öffentlichen Debatte. Nur mit unserem Bauchgefühl werden wir die Klimakrise nicht abwenden können. Die oben genannten vier Bereiche sind für Privatpersonen nicht ganz leicht auf ihre Lebensrealität übertragbar. Daher hier mal die drei wichtigsten Einflussbereiche für Privatpersonen:

  • Mobilität
  • Wohnen
  • Konsum

Also weniger Auto und mehr Bahn. Weniger Fernreisen, dafür mehr Urlaub vor der Haustür und in Europa mit Bus & Bahn. Weniger Wohnraum pro Person und eine bessere Dämmung. Passivhäuser, Erneuerbare Rohstoffe fürs Heizen statt Heizöl und Gas. Weniger Mist kaufen, dafür wirklich gute Dinge anschaffen, die lange halten und reparierbar sind. Elektronik auf Langlebigkeit hin aussuchen und nicht zu sehr den Trends anheim fallen.

An meiner Aufzählung sieht man, dass es nicht immer ein komplettes Verzichten ist, sondern es gibt meist Ersatztätigkeiten. Das trifft auch auf das Streaming zu. Und dahingehend kann Streaming auch ein absoluter Klima-Segen sein. Wenn sich eine Freundesgruppe zum Streaming in der Nachbarschaft trifft und dafür eben nicht mit dem Auto in die nächste größere Stadt ins Kino fährt, ist dem Klima tatsächlich geholfen. Wir brauchen zwar isolierte Emissions-Studien, aber am Ende geht es immer um das Entweder-Oder. Siehe hierzu auch meinen Grundlagen-Artikel zu Nachhaltigkeit im Alltag.

Hierzu gibt es mittlerweile eine ganze Forschungsrichtung: Wie verwende ich meine Zeit? Was sind Ersatztätigkeiten für bestimmte unterlassene Handlungen? Genannt wird das ganze „Zeit-Rebound-Theorie“ und in diesem Paper kann man sich damit noch ein wenig tiefer beschäftigen. Ein schönes Beispiel für Zeit-Rebounds ist die „constant travel time hypothesis“: Diese besagt, dass die Zeit, die zum Reisen genutzt werden kann immer gleich bleibt, egal wie schnell unsere Fortbewegungsmittel sind. Und tatsächlich konnte gezeigt werden, dass sich z.B. die Anreisezeiten für Urlaube nicht erhöht haben, sondern gleich geblieben sind. Nur jetzt können wir eben in wenigen Stunden nach New York fliegen anstatt an die Ostsee zu fahren.

Das wirft die Frage auf: Womit verbringe ich meine Zeit und wie ressourcenintensiv sind die einzelnen Tätigkeiten? Ich finde, dass diese Betrachtung einen spannenden Blickwinkel aufmacht und auch ein Hinweis für die Zukunft sein kann. So sind bspw. Tätigkeiten wie Lesen, Spazierengehen, Wandern, Sport machen, Zeit mit Freunden und Familie verbringen echte Klimaschoner. Sehr gut schneiden auch TV, Radio & Computernutzung ab. Verbringen wir unsere Zeit jedoch mit dem Kauf von Produkten, dann steigt natürlich unser Ressourcen/Zeit-Aufwand. Ebenso verhält es sich mit Essen & Trinken sowie Ausflügen & Ausgehen.

Wenn wir also überlegen wie eine klimasensible Freizeitgestaltung aussieht, dann gibt es einige klare Orientierungspunkte an denen wir uns entlanghangeln können:

Zum Beispiel ist ein Wochenendausflug mit den Rädern besser als zu zweit mit dem Auto 500 km für einen Kurztrip zurückzulegen. Verbessern lässt sich unsere Bilanz, wenn wir Mitfahrer suchen oder Bus & Bahn nehmen. Natürlich werden wir auch weiterhin Kurz-Trips unternehmen, aber auch hier kommt es auf die Häufigkeit an. Es wird leider oft übersehen, dass es einen enormen Unterschied macht ob 5 oder 10 davon unternommen werden. Simple und dennoch oft vernachlässigte Mathematik.

500 km Strecke für einen Kurz-Trip bei 2 Personen [Rechner]:

  • PKW und 5x pro Jahr: 0,25 Tonnen CO2
  • PKW und 10x pro Jahr: 0,5 Tonnen CO2
  • Bahn und 5x pro Jahr: 0,1 Tonnen CO2
  • Bahn und 10x pro Jahr: 0,2 Tonnen CO2

Und welche Tätigkeiten ersetzen wir mit einem solchen Kurz-Trip? Für was hätten wir sonst unsere Zeit aufgewendet? Diese Betrachtungen sind extrem komplex und ruhen auf sehr vielen Annahmen. Dennoch finde ich es interessant, sich mit diesen Theorien zu beschäftigen.

Fazit

Wenn wir jetzt einen Kurztrip von Freitag nachmittag bis Sonntag nachmittag annehmen (also genau 48 Stunden) und die CO2-Emissionen der 500 km Fahrt (hin- und zurück wohlgemerkt!) auf die 48 Stunden verteilen, bekommt jede Stunde dieses Ausflugs schon ca. 1000 Gramm CO2 pro Stunde als absoluten Sockel zugeschrieben. Dabei wurde noch kein Restaurant besucht oder Hotel gebucht. Es wäre also für das Klima günstiger, wenn man 48 Stunden vor dem Heimkinosystem Netflix geschaut hätte (wir erinnern uns: ca. 82 Gramm CO2 pro Stunde).

Der Vergleich ist natürlich nicht sinnvoll, aber die Dimensionen in denen wir hier diskutieren, werden doch deutlich. Hier wurde also wieder mit Kanonen auf Spatzen geschossen, wenn Streaming als der neue Klimakiller dargestellt wird.

Quellen & Erläuterungen:

https://www.golem.de/news/klimaschutz-streaming-muss-nicht-das-neue-fliegen-werden-2009-150799.html

https://publicarea.admiralcloud.com/p/iRg9WDwNJTyyr1D21Bx4mY

https://www.tagesschau.de/inland/streaming-klimabilanz-101.html

https://www.heise.de/news/Netflix-gruener-als-gedacht-4886740.html?wt_mc=rss.red.ho.ho.atom.beitrag.beitrag